Seitdem auch bei Museen auf die Quote geachtet wird und damit also die Anzahl der Besucher zum Maßstab für Erfolg wird, werden Museen gezwungen, sich in ihrer Vermarktung und den Werbemaßnahmen an die Konsumwelt und ihr sensationsheischendes Vokabular anzupassen. Kommerzielle Werbetexter und Journalisten, die Presseerklärungen oft kaum verändert in die Lokalpresse übernehmen, entwickelten einen Katalog von Floskeln, mit denen die Fortschrittlichkeit oder besser die Sensationalität des Angebots beworben wird. Was zum großen, "einmaligen" Event nicht taugt, wird im Kleinen zur begeisterungsfähigen Sache hochstilisiert. Dazu gehören zum Beispiel Worthülsen wie "mit allen Sinnen genießen" oder "für kleine und große Entdecker". Die Begriffe spiegeln den allgemeinen Trend zu Wellness-Orientierung und Aktivitätsangeboten im Freizeit- und Urlaubsbereich, in den sich die Museen weitgehend widerstandslos eingliedern.
So "erleben kleine und große Entdecker und Entdeckerinnen viele spannende Aktionen in Museum und Museumspark" des Deutschen Technikmuseums. „Eine Ausstellung für alle Sinne“ bietet das Museum Kalkriese.
Genauso werben auch Industrie und Handel, hier etwa ein Küchenstudio: "Erleben Sie die Küchen in unserer attraktiven Ausstellung mit allen Sinnen und lernen Sie unsere Philosophie kennen: Kochen ist ein sinnliches Erlebnis".
Ein knapper Pressetext vereint möglichst alle Elemente in drei Sätzen: "Gehen Sie auf Entdeckungstour und lüften Sie allerhand Geheimnisse rund um die Currywurst! Eine einzigartige interaktive Ausstellung erwartet Sie in Berlin! Ob sehen, hören, riechen oder mitmachen – ein Erlebnis für alle Sinne." (Deutsches Currywurst Museum) Und Im Klimahaus Bremerhaven gelingt es, alles in eine Überschrift zu packen: "Abenteuerlustig? Schwitzen, frieren, staunen – die spannendste Weltreise durch die Klimazonen unserer Erde."
Der Textaufbau gehorcht einfachen Regeln. Hier ein anderes Beispiel: "So macht Geschichte auch Kindern Spaß: Im Helms-Museum, dem Archäologischen Museum Hamburg, können Besucher sich demnächst auf eine Lego-Zeitreise begeben. Vom Urmenschen und Mammut bis zu den Pyramiden, vom griechischen Tempel über die mittelalterliche Burg bis hin zur Gegenwart und einem Ausblick in die Welt der Zukunft. Es gibt viel zu entdecken und natürlich auch einen Bau- und Spielbereich für Kinder." Nach der Erwähnung der Familientauglichkeit (die Ausstellung ist nicht nur für Kinder, sondern auch für Kinder) kommt ein Satz, in dem der Gang durch die Ausstellung zu einer Entdeckerfahrt/Expedition/Zeitreise o.ä wird. Dann folgte eine Aufzählung des Umfangs, möglichst durch alle Epochen und alle Kontinente gleichzeitig. Am Schluss der unbedingt notwendige Hinweis auf Mitspiele und Experimentierstationen.
Wenn die Ausstellung es hergibt, kann dieser Text erweitert werden um jeweils einen Hinweis auf ein sensationelles Exponat, die Einmaligkeit der Installation oder die Möglichkeit, sich mit einer Figur zu identifizieren. In der Ballinstadt in Hamburg gibt es eine zum Beispiel eine "interaktive Simulation, die es erlaubt, sich selbst in einen Auswanderer der alten Zeit zu versetzen."
Mit diesem "Upgrade" liest sich ein Text dann etwa so: "Seit jeher sind es Menschen voller Neugier und Leidenschaft, die Grenzen überschreiten und unser aller Horizont erweitern. Die Sonderausstellung „Abenteurer, Entdecker, Forscher“ im Übersee-Museum gibt spannende Einblicke in die Tagebücher von Abenteurern wie Vasco da Gama, Entdeckern wie James Cook und Forscherinnen wie Jane Goodall. Auf einer Zeitreise vom 14. Jahrhundert bis in die Gegenwart lernen die Besucher 12 herausragende Persönlichkeiten und Entdeckungen kennen. Einmalige Objekte aus der ganzen Welt, wie ein drei Meter großes, erstmals in Europa ausgestelltes Modell eines Schatzschiffs aus der Flotte des chinesischen Admirals Zheng He oder eine begehbare Tauchkugel, ergänzen die Geschichten der Personen und Entdeckungen. Auf zwei Rundgängen – dem Entdecker- und dem Forscherpfad – wird deutlich, wie und wo aus Theorien und Versuchen bahnbrechende Errungenschaften für die Menschheit wurden. Das „Future-Lab“ lädt zu eigenen Experimenten ein, mit dem Entdecker-Rucksack gehen Familien selbst auf Expedition durch die Ausstellung." (Überseemuseum Bremen)
Dieses Beispiel lässt sich in der Verwertung in einer Zeitung schön weiterverfolgen: Da heißt es in der Bildunterschrift des "Weserreport" vom 14.10.2012: "Im Raum über Vasco da Gama entdeckt sogar die Nase mit – vor der hinteren Wand verströmen Gewürze ihre Gerüche." (Die "hintere Wand" erklärt sich durch das abgedruckte Foto.)
Oft wird auch die Besuchererfahrung einer Simulation oder Nachstellung dabei schlicht mit dem Original gleichgesetzt: "Von der Terrasse der stilechten Kiwara-Lodge aus genießen die Besucher die einmalige afrikanische Kulisse." (Zoo Leipzig) Solche "einmaligen" Erfahrungen bleiben nicht nur Zoos und kulturhistorischen Ausstellungen vorbehalten, auch "das Buchheim Museum ist ein Erlebnis, das alle Sinne anspricht."
Was mich an der Terminologie stört, ist nicht der Anspruch selbst, sondern der Umstand, dass die Erfahrung "mit allen Sinnen" und die Neugier, die Welt zu entdecken zu Besonderheiten werden, die nicht dem Alltag zu entsprechen scheinen. In der Werbung wird etwas versprochen, das im Grunde ganz selbstverständlich ständig stattfindet. Wir Alltagsmenschen erfahren unsere Umwelt permanent mit allen Sinnen (wenn wir nicht bedauerlicherweise eines Sinnes verlustig gegangen sind) und seit der frühen Kindheit ist Neugier der Antrieb, der uns unsere Umwelt entdecken lässt. Die Entdeckung ist aber realiter oft die von etwas Unerwartetem: Das abgebrannte Streichholz ist heiß, der pure Wasabi extrem scharf, der Keller voller großer Spinnen und die Bienen auf den Kleeblüten stechen, wenn man drauftritt. Die Entdeckung lässt uns Grenzen erfahren und gewissermaßen unser inneres Bild der Welt schärfen. Dazu ist es nicht notwendig, den Amazonas zu durchpaddeln. Wenn Entdeckung mit allen Sinnen aber etwas Alltägliches ist, warum wird dann in der Werbung soviel Wert darauf gelegt?
Die Erklärung liegt darin, dass ein Museum oder eine Ausstellung, die große Besuchermengen anziehen will, sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner in den Vorkenntnissen und Fähigkeiten der Besucher zubewegen muss. Dies spiegelt sich in der Didaktik im Museum, die ganz und gar auf Kleinkinder und Grundschüler zugeschnitten ist. Dieses Niveau wird dann auch als für Ältere tauglich angenommen. Wer allerdings mit etwas Vorwissen in die Ausstellungen geht, ist meist vom Angebot frustriert und wendet sich ab. Kindgerechte oder auch vermeintlich kindgerechte Aufarbeitungen werden zum Regelfall. Kombiniert mit inszenatorischen Rahmen und "erzählerischen" Textbearbeitungen wird das ehemals didaktische Zentrum in der Schauvitrine zu einem illustrativen Endpunkt einer Gestaltung, die aus wild gestapelten Expeditionskisten und zu Vitrinen umgebautem Reisegepäck komponiert wird, ergänzt durch eine Grafik, die von den Disney-Studios geliefert scheint. Dabei werden Besucher, die mit höheren inhaltlichen Ansprüchen an einen Museumsbesuch herangehen, unterfordert. Insbesondere Jugendliche, die eher nach dem Warum oder Woher fragen, sind von simplifizierenden Darstellungen frustriert. Wenn Osmose durch eine simple Kolbenpumpe zum Anfassen erklärt wird, staunt ein 13-jähriger Gymnasiast nicht über das Phänomen und seine Erklärung, sondern über den Gegensatz zu dem, was ihm in der Schule erklärt wurde.
Außerdem wird in dem erlebnisorientierten Freizeitszenario unterstellt, dass im Alltag die Sinne kaum gebraucht werden: "Besucher können ihren Alltag im Zoo hinter sich lassen und die Welt der Tiere mit allen Sinnen erleben." (Zoo Leipzig) Hier liegt es nahe, zu unterstellen, dass der Standardbesucher von Fertiggerichten lebt und ein Leben aus zweiter Hand vor dem Fernseher oder mit dem facebook-account lebt, ein Leben, das offenbar wenig sinnenfroh und erlebnisreich ist. Das sagt was aus über den Alltag der Menschen, aber wenig über das Angebot in Museen, Zoos und Freizeitparks.
Und was ist eigentlich eine Wahrnehmung mit allen Sinnen wirklich? Dazu muss man sich klar sein, welche Sinne der Mensch besitzt. Klassisch kennt jeder die fünf Sinne Sehen, Riechen, Hören, Schmecken, Fühlen. Aber das sind nicht alle Sinne, mit denen der Mensch ausgestattet ist; Tiere können ohnehin mehr Sinne haben und zum Beispiel auch Magnetfelder wahrnehmen.
Laut wikipedia hat der Mensch sogar 9 Sinne:
1. Sehen, die visuelle Wahrnehmung mit den Augen
2. Hören, die auditive Wahrnehmung mit den Ohren
3. Riechen, die olfaktorische Wahrnehmung mit der Nase
4. Schmecken, die gustatorische Wahrnehmung mit der Zunge
5. Tasten, die taktile Wahrnehmung mit der Haut
6. Temperatursinn, Thermorezeption
7. Schmerzempfindung, Nozizeption
8. Vestibulärer Sinn, Gleichgewichtssinn
9. Körperempfindung (oder Tiefensensibilität), Propriozeption
Von diesen 9 Sinnen sind nur die ersten acht auf die Umwelt bezogen, aber auch sie können kaum alle in einem Museum zum Einsatz kommen, so ist die Schmerzempfindung nicht unbedingt ein Ziel von Museumsinstallationen. Der Gleichgewichtssinn wurde aber schon in mehreren Ausstellungen, die ich gesehen habe, angesprochen, auch der Temperatursinn wurde thematisiert. Das Schmecken hingegen wird nur ganz selten zum Ziel der Angebote, denn Besucher können kaum an Exponaten lecken oder gar darauf herumkauen, es sei denn, ein Restaurant bietet eine thematisch passende Speisekarte.
So schrumpfen "alle Sinne" schnell auf weniger als die Hälfte zusammen. In einem Museumskonzept aus dem Jahre 2007 heißt es, dass die Dauerausstellung "all das vermitteln [soll], was beispielsweise das Buch oder das Internet nicht leisten kann – die räumliche Wahrnehmung des Originals mit möglichst allen Sinnen (optisch, haptisch, akustisch und olfaktorisch)." Da waren es nur noch vier. (Museum Schloss Salder, Salzgitter)
Nachdenklich stimmt mich der Umstand, dass ein Ausstellungskonzept, das bei den vorhergehenden Wettbewerben auch dem Auftraggeber verkauft werden muss, ohne Chancen zu sein scheint, wenn nicht das komplette Szenario an Worthülsen aufgebaut wird. Der Ausstellungsgestalter unserer Zeit liefert am besten den typischen Pressetext (siehe oben) mit, wenn er Erfolg mit einer Konzeption haben will. Aber ist es nicht bedeutender, zu fragen, was der Besucher erfährt? Denn wenn es um die reinen Sinnenfreuden geht, bleibt womöglich der Museumsbesuch hinter dem Frühstück zurück.