21.03.2012

Geruch. Auch eine Gestaltungsfrage

Wenn man etwas nicht versteht, hilft es manchmal, sich vorzustellen, woher das Phänomen historisch kommt. Was heute sinnlos wirkt, mag früher einen Sinn gehabt haben. Seien es Instinkte oder Rituale. Oder vielleicht auch künstlich aufgelegte strenge Gerüche. 

Also stellen wir uns mal die Menschen am Lagerfeuer sitzend vor. Die Männer sind gerade von der Jagd zurück gekommen, was bedeutet, sie waren eines zähen Stück Fleisches wegen eine Woche weg, sitzen aber jetzt da breitbeinig um die Glut und bestreiten mit ihren Prahlereien lautstark die Kommunikation. Es geht jetzt nicht darum, was die Frauen während dieser Abwesenheit gemacht haben. Es geht darum, wie sich die Getrennten wieder begegnen.

Nun, abgesehen von der Beute tragen die Jäger etwas mit sich, das Zeugnis ablegt von ihrem Ausflug: Sie riechen nach allem möglichen. Der Geruch der Prärie oder des Waldes, der Geruch von totem Tier und natürlich vor allem nach Schweiss.  Es ist dieser Schweissgeruch, der ihre Anstrengung belegt, etwas Grillbares zum Feuer mitzubringen. Und es ist vielleicht auch dieser Schweissgeruch, der sie auf eine für den zivilisierten Menschen unerklärliche Weise für das andere Geschlecht attraktiv macht – vorausgesetzt, sie waschen sich jetzt bald mal.

Der Architekt Neutra hat mal darauf hingewiesen, dass wir alle unsere Steppengene noch in uns tragen, während wir uns das dünne Mäntelchen der Zivilisation umgehängt haben und uns mit Milliarden anderen Menschen in der drangvollen Enge des heutigen Planeten zu arrangieren versuchen. Es ist dieses Erbe, das uns Alarm schlagen lässt, wenn wir uns einer Biegung in einem unübersichtlichen Flur nähern – Ursache manch schwer nachvollziehbarer Aggressivität im modernen Grosswohnungsbau. Und es ist dasselbe Erbe, das uns im Dunkel der Nacht zu panischer Anspannung zwingt, wenn wir den Geruch eines fremden Jägers verspüren.

Hunde kennen ihren Rudelgeruch und sorgen – beständig unterstützt von ihrem wedelnden Schwanz – für den Abgleich der verantwortlichen Duftstoffe. Der moderne Mensch aber will keinen Rudelgeruch. Er will seinen individuellen Geruch, für den ihn eine hochspezialisierte Industrie mit allerlei Tinkturen versorgt, die zum grössten Teil womöglich anderweitig nicht nutzbare, aber nach irgendwas riechende Chemieabfälle sind.

Nach Nietzsche ist bekanntlich Individualität die Wiederkehr des immer Gleichen. Dies kehrt sich im Düftewahn um: Massenwahn ist die Wiederkehr des ständig Neuen. Weil der künstlich aufgetragene Duft jegliche wahre Funktionalität verloren hat – auch wenn uns die Werbung anderes glauben lassen will –, braucht er auch keine Legitimation mehr für seine jeweilige Ausbildung. Der Duftcocktail ist jeglicher Diskussion über seine Bestandteile enthoben. Während sich jedes Technikprodukt für noch das unbedeutendste Detail seiner Neuerung rechtfertigen muss, ist das neue Parfum davon befreit. Der Geruch ist der Debatte entzogen: Allein der Parfumnutzer entscheidet nach seinem privaten Gefallen. Kritik im öffentlichen Raum gibt es nicht. In der Mode gibt es eine starke Verregelung und Debatte, noch mehr bei Fahrzeugen, Consumer-Elektronik und Fotoapparaten, aber nicht bei industriell vermarkteten Duftstoffen.

Leider hat der Duftstoff nicht nur Aufgaben am Körper übernommen, er erscheint heute nahezu überall, ungefähr und unhinterfragt. Im Waschmittel, im Nahrungsmittel, in Reinigern, in Seifen und Shampoos, in speziellen Duftträgern für Toilettenschüssel und Auto bis hin zur künstlichen Beduftung von Einzelhandelsgeschäften.

Mit der zunehmenden Verbreitung verschwindet die Exklusivität. Die Konsumindustrie sieht das natürlich auch. Daher versieht sie ihre Aftershaves, Deodorants, Parfums und Eau de Cologne mit völlig ungerechtfertigten Preisen, die dem aus funktionaler Sicht komplett wertlosen Inhalt jene Wertigkeit verleihen, die ihn für den Konsumjunkie attraktiv macht. Wie der Drogensüchtige steht er unter dem Druck immer neuer Rauscherlebnisse, die seinen tristen Alltag aufmöbeln und ihm einen Hauch (!) von Bedeutung verleihen. Wie ginge das besser als sich durch einen künstlich aufgelegten Duft wichtig zu machen und einer wehrlosen Umwelt aufzudrängen. Bescheidenheit und höfliche Zurückhaltung ist schon lange keine Zier mehr und wer um Zurückhaltung bei Duftapplikationen bittet, begegnet kompletten Unverständnis.

Da Geschmacksbildung  in ästhetischer Hinsicht ohnehin nicht stattfindet, ja sogar mit den verbreiteten Unwert der "Geschmacksache" komplett der persönlichen Willkür unterworfen ist, haben die meisten weder eine Idee davon, wie sie sich selber darstellen, noch sehen sie überhaupt einen Wirkungszusammenhang. Wer je in einem der typischen mittelpreisigen Vertreterhotels den Frühstücksraum aufgesucht hat, weiss, wovon ich rede (und für das Essens- und Kaffeeangebot gilt natürlich das gleiche), denn mit jedem neuen Gast, der den Raum betritt, strömt eine neue Duftwolke in den Raum und überdeckt den schwachen Geruch von langsam vor sich hin trocknendem Billigkase und fettiger Kochwurst. Aber egal, denn jetzt tritt ja der Jäger des verlorenen Schatzes auf, angetan mit normierter Anzuguniform inklusive hellblauem Hemd - bei mutigen fein kariert -, gegelten Haaren und natürlich "seinem" Aftershave.

Man muss jetzt nur noch erklären, warum es gerade die Männer sind, die sich so präsentieren. Aber das sagte ich ja schon, es sind nämlich die Jäger, die zu weitgehend sinnlosen, rituellen Tätigkeiten in die sogenannte Geschäftswelt aufzubrechen. Nur eines hat sich wirklich geändert: Man startet in diese Unternehmungen mit jenem penetranten Geruch, mit dem man früher davon zurück kam. Aber weil der "moderne Mann" sich anders gibt, verwendet er das noch vor kurzem eher der weiblichen Sphäre zugeordnete Parfum zur Selbstdarstellung. Mit ihm kann er den Spagat zwischen sinnlich-sensibler Präsenz und aggressivem Auftreten vollführen, den die Gesellschaft von ihm erwartet.

Duftforscher unterscheiden verschiedene Schwellen in der Duftwahrnehmung. Bei geringer Konzentration wird der Duft noch nicht bewusst wahrgenommen, aber der Organismus reagiert bereits. Ab der nächsten Schwelle wird der Geruch bewusst wahrgenommen, dann schließlich auch erkannt. Interessanterweise wandelt sich bei weiter steigender Konzentration derselbe Duft von einem angenehmen zu einem aufdringlichen Duft, bis am Ende die Schwelle überschritten wird, bei der eine Fluchtreaktion ausgelöst wird.

In der Qualifikation der verschiedenen Düfte erscheinen die Grunddüfte erdig, blumig, fruchtig, grün, würzig, harzig, holzig und animalisch. Die verbreiteten Moschusbestandteile von Parfums sind nicht überraschend in der animalischen Gruppe zusammen mit Schweiß und Fäkalien angeordnet. Hiervon kann nur überrascht sein, wer dem Glauben anhängt, Männerparfums sollten angenehm riechen. Das sollen sie natürlich nicht. Schließlich geht es nach wie vor um die Kontrolle der Territorialität, um Macht und Unterwerfung. Bis eine Fluchtreaktion ausgelöst wird.

Wie früher.
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